Christoph Mecke

Christoph Mecke

Managing Partner, Plan.Net Hamburg

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Die Regeln von VR sind noch ungeschrieben. Eine seltene Chance für die Markenkommunikation.

Innovationen werden in der Kommunikationsbranche routiniert angekündigt und selten eingelöst. Bei Virtual Reality ist es anders, dieses „Next Big Thing“ rechtfertigt jeden Hype. VR ist eher unter- als überschätzt, denn es ist tatsächlich ein vollständig neues Medium.

Wenn ein neues, folgenreiches Medium entsteht, muss es eine Weile mit bereits bekannten verglichen werden, um die Erfahrung in Begriffe zu bringen. Das beeinflusst eine Weile auch die kreative Form. Kino begann als „lebende Photographie, perfekt in jedem Detail und in Lebensgröße“, Fernsehen als visuelles Radio, das World Wide Web als Hypertext. Bei VR ist es der Name selbst, der auf diesen Übergang verweist: VR ist „sowas wie Realität“.

Natürlich ist VR so wenig über Realität erklärbar wie jedes andere Medium. Aber uns fehlen Erfahrungen und Konventionen, um VR als Medium einzuordnen. Deshalb ist jeder Beitrag über VR ein Erlebnisbericht, und deshalb macht Erfahrung hier auch tatsächlich noch den Unterschied: Man begreift es nicht, wenn man es nicht erlebt hat.

VR wird als immersives Medium aufgefasst, also das Versprechen des „als ob“ – als ob man da wäre, als ob man die Person wäre, die repräsentiert wird. Die Idee der visuellen Immersion ist jedoch wesentlich älter. 1787 baut Robert Barker seine begehbaren 360-Grad-Ansichten auf und nennt sie „Panorama“. Noch älter sind die „Guckkästen“, die bis ins 19. Jahrhundert in Salons und auf Jahrmärkten beliebt waren, hölzerne Kleinapparaturen zur Betrachtung von Perspektivtheatern aus Papier, Holz oder Glas. Frühzeitliche VR-Gears also.

Diese Panoramen und Guckkästen waren primär optische Illusionen. Mit der Digitalisierung kommt in den 1980ern Taktilität ins Spiel, aus dem Zuschauer wird ein Akteur. Jaron Lanier entwickelt den „Data Glove“ und prägt den Begriff Virtual Reality. Die visuelle Repräsentation, die der Data Glove steuern kann, ist noch abstrakt und klötzchenhaft, aber richtungsweisend. Die eigene Körperwahrnehmung beeinflusst, was wir sehen. Wir können im Bild handeln.

In modernem VR kommt beides zusammen – Körperlichkeit und Panorama. Dabei hat VR einige Tricks im Ärmel, die unser Gehirn effektiv überlisten. Und zurzeit sieht es so aus, als ob wir auch nach mehrfacher Wiederholung darauf hereinfallen. Der Gang über den virtuellen Abgrund bringt im Labor auch nach der x-ten Wiederholung das Herz zum Rasen und erzeugt messbare, körperliche Angst. Falsche Körpererfahrung im VR-Dummy, der simulierten Person, die „ich“ bin, kann quasi-traumatische Effekte auslösen. So spürbar, dass der Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger mit Kollegen eine Ethik der VR-Produktion formuliert hat.

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Im britischen Thorpe Park schickt der Mentalist und Illusionist Derren Brown seit Juli die Besucher in seinen „Ghost Train“. Ausgestattet mit einem VR Gear Kit, wird man buchstäblich zum Teilnehmer eines Grusel-Szenarios, attackiert von Dämonen und anderen seltsamen Passagieren. Brown verstärkt die sowieso überzeugende VR-Illusion mit Bewegung, Ortswechsel und Berührungen durch Schauspieler. Immersion pur.

Und dennoch spricht vieles dafür, dass dieses Wunder des „Dabeiseins“ vorübergeht, dass es ein Phänomen der Pionierphase ist. Es fehlt nicht nur die Erfahrung bei Rezipienten, es fehlen auch die Regeln der Form. Beide, Produzenten und Rezipienten, experimentieren noch. Es ist ein Vortasten zur Grammatik des Mediums, die Konventionen ermöglicht.

Das zeigt sich in einer großen Formenvielfalt, geradezu eine Explosion der Ideen. Zurzeit scheint VR alles sein zu können: Spiel, Kino, Dokumentation, E-Learning, Horror-Trip, und, nun ja, Videokonferenz. Einer der Gründer der US-Produktionsfirma Wevr, Anthony Batt, bringt es auf eine schöne Formel [„Studio 360“, New Yorker, 25. April 2016]:

„Does that mean our stuff is always perfect? Fuck no! It means we start with no idea of how we´re gonna make a project work, and we make it work. Or we don´t, and the whole thing turns to jello, and we learn.“

Es ist eine große Chance der Markenkommunikation, sich an der Entwicklung dieser Grammatik zu beteiligen. Zwei Besonderheiten helfen dabei: erstens sind kurze Formate heute noch am besten für VR geeignet, und zweitens sind auch vergleichsweise kostengünstige Produktionen umsetzbar.

Seien wir ehrlich: 90% der Markenkommunikation ist mehr oder weniger freundliche Überlistung. Retargeting ist kein Vergnügen fürs Publikum. Mit VR darf Werbung endlich Spektakel sein. Gut gemacht, entlässt sie ihr Publikum aus einer (überwältigenden, aufklärenden, erschreckenden) Erfahrung. Dieses vollständig neue Medium mitzugestalten ist eine Gelegenheit, die so schnell nicht wiederkommt.

 

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